Umso reizvoller ist es, historische Aufnahmen zu kolorieren. Marina Amaral und Dan Jones beschreiben diesen mühevollen Prozess: „Obwohl heute der Computerbildschirm die Leinwand ist (Anm. … wie bei der Malerei) wird dennoch jedes Bildsegment von Hand koloriert. Der Prozess kennt keine Algorithmen. Die Werkzeuge sind digital, aber die grundlegenden künstlerischen Techniken haben sich seit Leonardo da Vinci nicht geändert ... Die Kolorierung eines einzigen Fotos kann eine Stunde oder einen Monat dauern.“
Umso anerkennenswerter ist das Ergebnis. Es beginnt mit einem Porträt von Napoleon III. mit bunten Orden und einem, nun ja, Sauerkrautbart. Queen Victoria sitzt brav da in einem Kleidchen aus zartweißer Spitze, bestickt mit zartvioletten Blüten.
Zu Beginn des Fotobandes grüßen Jackie und John F. Kennedy als Brautpaar vor saftig grüner Wiese. Das letzte ehemalige Schwarzweißfoto zeigt einem sowjetischen Kosmonauten im orange-gelben Raumanzug.
Die Fotogalerie reicht vom Krimkrieg bis zum Kalten Krieg, von der Entwicklung der Dampfmaschine bis zur Raumfahrt und umfasst eine Zeit der großen Umwälzungen auf allen Kontinenten.
Wir blicken auf den kolorierten Bismarck (eisgrauer Schnäuzer, heller Hut, dunkelblauer Mantel), auf Rasputin, den „verrückten Mönch“, und mit Schaudern auf den Kellerraum von Jekaterinburg, in dem die Zarenfamilie niedergemetzelt wurde, mit Abscheu auf ein Foto eines gewissen A.H. in der Krachledernen, und mit Grauen auf eine verhungernde Familie 1921 in Russland. Ja, manche Fotos möchte man lieber nicht sehen, weder in Schwarzweiß noch in Farbe, und rasch überblättern wie die der hingerichteten Mitglieder der Pariser Kommune 1871.
Gerne sehen wir uns dagegen das berühmte, im Life Magazine veröffentlichte Foto vom 14. August 1945 an, auf dem ein Seemann auf dem Times Square eine hübsche Krankenschwester stürmisch abbusselt aus Freude über das Ende des II. Weltkriegs. Und das Foto von Sarah Bernhardt im reich geschmückten Theaterkostum. Alle Freundinnen von Paris erfreut die fotografische Dokumentation der Errichtung des Eiffelturms.
Zum Schmunzeln regt das Motiv zweier züchtig gekleideter Badenixen in den Zwanzigerjahren am Potomac-Fluss in Washington D.C. an: ein angejahrter Herr – vermutlich eine Amtsperson! – misst die bloßliegenden (!) Zentimeter zwischen Knie und Saum des blau-weiß-gelben Badekostüms nach – werden die Badevorschriften auch eingehalten? Ist etwa die öffentliche Moral akut gefährdet?
Freude machen auch die Fotos von Marilyn Monroe, auf dem sie einige Tage vor ihrer Hochzeit mit Arthur Miller mit Reportern spricht, und das von der jungen Queen bei ihrer ersten Rundfunkansprache 1952.
Über die Autoren: Marina Amaral ist eine brasilianische Künstlerin, die sich auf das Kolorieren von historischen Fotografien spezialisiert hat. Dan Jones arbeitet als Historiker und Journalist und hat mehrere Bücher zur britischen Geschichte veröffentlicht. Brikada-Empfehlung: Weltgeschichte in Bildern zum Anschauen, Wegschauen, Hinschauen – Meinung bilden, Lernen. Autorin: Doris Losch Marina Amaral /Dan Jones: „Die Welt von gestern in Farbe – eine neue Geschichte der Welt von 1850 bis 1960“, Hardcover, 432 Seiten, mehr als 200 historische Aufnahmen erstmals in Farbe, Euro 29.99, ISBN 978 3 7423 0775 0, erschienen im riva Verlag, München. Weitere Informationen: www.rivaverlag.de